Das ist keine Liebe, das ist pervers. Doris Strahm, Publik Forum 5/2019 vom 08.03.2019

Immer noch wird gepredigt, dass der »Opfertod« Jesu am Kreuz heilsnotwendig war. So eine Theologie rechtfertigt Missbrauch. Über Kreuz und Erlösung muss man anders sprechen.
 
Bis heute gehört es zu den zentralen Glaubensaussagen des Christentums, dass der Opfertod Jesu am Kreuz für das Heil der Menschen notwendig gewesen sei. Moderne Theologen meiden zwar das Wort »Opfer« und reden stattdessen lieber von Jesu »Hingabe«. Aber auch in diesen Deutungen bleibt die grausame Hinrichtung Jesu am Kreuz Teil eines göttlichen Heilsplans.  
»Wie soll ich meinem Kind erklären, was ich selbst als Mutter nicht akzeptieren kann, nämlich, dass ein Vater seinen Sohn zur Schlachtbank führt? Was ist das für ein Gott?«, fragte eine Teilnehmerin auf einer Tagung. Noch perverser wird das Gottesbild, wenn in der brutalen Kreuzigung die »Liebe« Gottes zum Ausdruck kommen soll. Die Verknüpfung von Opfer und Liebe transportiert ein gefährliches Beziehungsmodell. Denn in ihm spiegelt sich auch die patriarchale Familienordnung, die Liebe als Gehorsam und Unterwerfung, als Opfer und Hingabe verstanden hat.

 
Der unschuldige Sohn, der in freiwilliger Unterordnung unter den Willen des Vaters und aus Liebe zu ihm Folter und Demütigung erträgt, und der göttliche Vater, der das Leiden und Opfer des Sohnes billigt – diese Vorstellung akzeptiert indirekt den Missbrauch von Kindern. Mehr noch: Sie sakralisiert ihn sogar. Im Kontext von sexueller Gewalt und Missbrauch ist dies ein ganz gefährliches theologisches Modell.
 
Die feministische Kritik an der traditionellen Kreuzestheologie hat vor allem Frauen und Kinder im Blick, die von Gewalt betroffen sind. Das theologische Modell von Christus, der sich in Gehorsam gegenüber seinem Vater dem »erlösenden« Leiden am Kreuz unterwirft, fördere die Akzeptanz der Gewalt an (Ehe-)Frauen, Töchtern und Söhnen, die sich ebenfalls der familiären und häufig auch der sexuellen Gewalt des Vaters zu unterwerfen haben.
 
Feministische Theologinnen wie Regula Strobel, die sich in der Gewaltprävention engagieren, kritisieren, dass die klassische Kreuzestheologie Leiden, Opferbereitschaft und Selbstverleugnung als erlösende Verhaltensweisen propagiert. Damit bringe sie gewaltbetroffene Menschen dazu, sich mit Gewalt und Leiden abzufinden, statt aktiv dagegen zu kämpfen. In diesem Sinne kann die christliche Opfertheologie Opfer in ihrem Opfersein festhalten und Täter entlasten.
 
Wer das Kreuz spiritualisiert, entlastet Täter Wer eine brutale Gewalttat wie die Hinrichtung Jesu am Kreuz aus dem historischen und sozialen Kontext löst, sie spiritualisiert und mit dem erlösenden Handeln Gottes verbindet, verharmlost sie. Es wird nicht mehr unterschieden zwischen vermeidbarem, durch Gewalt verursachtem Leiden und unvermeidbarem Leiden wie zum Beispiel Krankheit. Dies entlastet davon, die Mechanismen, die vermeidbares Leiden verursachen, zu benennen, ihre Verursacher ausfindig zu machen und für eine Veränderung der Unrechts- und Gewaltstrukturen einzutreten.
 
Die Vorstellung, dass Gott selber das Leiden und den gewaltsamen Tod seines Sohnes um der Erlösung der Welt willen billigt, »heiligt« zudem Gewalt als Mittel zur Erlösung. – Eine Vorstellung, die längst zu einer gängigen gesellschaftlichen und politischen Argumentationsfigur geworden ist, wenn gesagt wird, dass zur Erreichung »höherer Ziele« Opfer nötig oder unvermeidbar sind. Damit geraten die Täter aus dem Blickfeld und werden nicht zur Verantwortung gezogen. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb die klassische christliche Opfertheologie keine befreiende Gegenvision zu den bestehenden Gewaltverhältnissen darstellt, sondern deren »Normalität« stützt. Wer die Opferung von Menschen als sinnvoll erklärt, rechtfertigt sie und trägt zur Akzeptanz von Gewalt als legitimem Mittel bei.
 
Nachfolge Jesu wurde von den christlichen Kirchen lange als Imitation des leidenden Christus verkündet: Jeder und jede nehme sein/ihr Kreuz auf sich. Besonders für Frauen, die über Jahrhunderte auf Tugenden wie aufopfernde Liebe, Ertragen von Leiden, Demut und Gehorsam festgelegt waren, hat sich das verheerend ausgewirkt. Diese Verkündigung diente dazu, Frauen klein und unterdrückt zu halten. Sie forderte sie auf, einen gewalttätigen Ehemann, sexuelle und psychische Gewalt, gesellschaftliche Diskriminierung und unerfüllte Wünsche geduldig zu ertragen.
 
Seit Jahrhunderten blicken Christinnen und Christen auf einen gemarterten Körper und sehen in ihm auch noch Erlösung. Wie ist dieser Gekreuzigte in unseren Altarräumen auszuhalten? Sehen, empfinden wir überhaupt noch etwas – oder bewirkt die theologische Überhöhung dieses Todes, dass wir auf Todesqual schauen, ohne mit der Wimper zu zucken?
 
Die christliche Galerie ist voll von Bildern des Leidens; ja die christliche Tradition hat geradezu eine Erotik des Schmerzes und des Leidens entwickelt, während der lebendig-sinnenfreudige Körper als sündig verteufelt worden ist. Für die »Fülle des Lebens«, die Jesus verheißen hat, aber auch für die christliche Botschaft vom Heilwerden der Menschen und von der Auferstehung ins Leben hat die Kirche keine Bildtradition entwickelt, die in der Praxis in gleicher Weise wirksam geworden ist wie das Kreuz. Wir müssen deshalb heute anders von Kreuz, Opfer und Erlösung sprechen.
 
Dies heißt aber nicht, dass eine christliche Rede vom Kreuz überhaupt aufgegeben werden soll. Viele Theologinnen, vor allem befreiungstheologisch orientierte, interpretieren das Kreuz vom Leben Jesu her: als Konsequenz seines Eintretens für das Reich Gottes – für eine andere Welt, in der das Unrecht ein Ende hat, in der eine neue Form der Gemeinschaft zwischen Menschen und ein »Leben in Fülle« möglich ist. Bis heute ist diese Form des Kreuzes als Konsequenz eines kompromisslosen Eintretens für die Gerechtigkeit Gottes in unserer Welt grausame Realität. Entscheidend ist deshalb, dass in der Rede vom Kreuz die politische und historische Dimension zum Ausdruck kommt.
 
Die zentrale Frage ist, wo unsere Kreuze heute stehen, und diese sichtbar zu machen. Wer wird heute ans Kreuz geschlagen? Das Kreuz ist Protest und Mahnmal. An dieser Bedeutung des Kreuzes – als Vergegenwärtigen und Sichtbarmachen von Leiden, Unrecht und Gewalt – möchte ich persönlich festhalten: Nicht, um es mit Sinn zu erfüllen, sondern um es anzuklagen, zu verneinen, es nicht einfach hinzunehmen. Heilbringend sind Leben und Auferstehung Jesu, nicht sein Tod. Das eigentlich erlösende Ereignis ist seine gelebte Botschaft vom Reich Gottes.
 
Am Anfang des christlichen Glaubens steht nicht das Kreuz, sondern die Erfahrung der Jüngerinnen und Jünger Jesu, dass mit seinem Sterben am Kreuz der Tod nicht gesiegt hat, dass Gott seine Botschaft vom Reich Gottes bestätigt hat. Diese Erfahrung setzte bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu Auferstehungsprozesse in Gang: Sie, die voller Angst geflüchtet waren und deren Hoffnung tot war, wurden zum Leben erweckt und mit der Aufgabe betraut, die Arbeit am Reich Gottes weiterzuführen. So sollten auch wir heute Auferstehungsmomente in unserem Leben wahrnehmen und Auferstehungsprozesse in Gang setzen. »Auferstehung« umschreibt für viele feministische Theologinnen den Glauben, dass die Erfahrung eines lebenspendenden Gottes stärker ist als die täglichen Erfahrungen des Scheiterns, des Unrechts und des Todes.
 
Auferstehung ist Aufstehen aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit; die Erfahrung, dass uns dort, wo alles tot und zerbrochen schien, plötzlich neue Lebensmöglichkeiten geschenkt werden. Aufgabe der Theologie müsste es sein, diesen Auferstehungserfahrungen ebenso Ausdruck zu geben wie der Erfahrung des Kreuzes; neben dem Kreuz Symbole und Bilder anzubieten, die von der Auferstehung vom Tod ins Leben erzählen: der Auferstehung der unterdrückten Körper von Frauen, Männern und Kindern, von der Auferstehung der Hoffnung, der Gerechtigkeit und der Liebe.
 

Doris Strahm, geboren 1953 in Zürich, ist feministische Theologin. Im November 2018 trat Strahm gemeinsam mit fünf weiteren bekannten Katholikinnen aus der römisch-katholischen Kirche aus: aus Protest gegen die Frauenfeindlichkeit, menschenfeindliche Sexualmoral und Vertuschung von Missbrauch in der Kirche. Der Artikel ist eine gekürzte und redaktionell leicht bearbeitete Fassung des Vortrags »Vom Kreuz mit dem Kreuze« auf www.doris-strahm.ch »Ich möchte am Kreuz festhalten – nicht um es mit Sinn zu füllen, sondern um es anzuklagen

 

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