Es ist ein grauer Mittwochmittag, über dem Vorplatz von St. Matthias hängt trister Nebel und in den Knochen steckt der 01. Dezember 2020. Dem Tag, an dem eine Amokfahrt in der Trierer Innenstadt stattfand. Seitdem sind fünf Tote zu beklagen und viele Verletzte. Thomas Kiessling soll heute mit mir über Trost reden. Etwas, was er betont, heute viel wichtiger ist, als wir beim Erstellen des Programms dachten. Thomas Kiessling ist kämpferisch und mitfühlend zugleich und stellt sich der Frage: Wie kann man angesichts einer solchen Tat noch von Trösten sprechen?
Thomas Kiessling ist kein Unbekannter in Trier: mit seiner Karriere bei den Jungen Tenören hat er auch bundesweit Popularität erlangt. Doch Thomas Kiessling ist weniger am Ruhm interessiert, als dass er immer wieder betont: „Ich habe mit der Musik ein Geschenk bekommen. Ich kann eine tote Notensprache übersetzen und sie mit lebendigen Emotionen versehen. Musik ist eine Sprache, die einen emotional packt und Grenzen überwindet.“ Dass er mit Grenzen überwinden seine Erfahrungen hat, zeigt auch, dass er der International Fellowship Association mehrfach vorstand und Menschen, die neun unterschiedliche Muttersprachen vom Kommunizieren hindern sollte, zum Sprechen, Singen und Beten brachte.
Thomas Kiessling verrät, dass Musik nur das Medium sei, dahinter muss aber eine Haltung stecken: „Wir müssen in dieser Zeit füreinander Sorge tragen und uns gegenseitig achten. Nur so kann man mit Musik Grenzen überwinden. Für mich ist mein Engagement bei Nestwärme neben meiner Familie der wichtigste Pfeiler in meinem Leben. Bei Nestwärme werden Kindern mit Behinderungen und ihren Familien aktiv und unbürokratisch geholfen. Da ist es unwichtig, woher man kommt, welche Hautfarbe oder welche Religion man hat. Helfen und solidarisch sein, darauf kommt es an.“
Und solidarisch ist Thomas Kiessling: Viele seiner Konzerte sind Benefizveranstaltungen, bei Nestwärme sucht er das Gespräch mit Menschen, die Hilfe suchen und hilft, wo er kann. Als Künstler sieht er seine Verantwortung gerade darin, sozial zu sein, sozial zu handeln und sozial zu denken.
Und wie sieht es mit der Solidarität mit den freien Kulturschaffenden aus? – Thomas Kiesslings Antwort ist etwas bedrückend: „Seit Corona vermisse ich gesellschaftliche Solidarität. Als ich letztens auf Facebook gepostet habe, dass die finanzielle Situation der Kulturschaffenden unter Corona prekär ist, da wurde ich angegiftet, dass ich doch 75% meiner Einnahmen als staatliche Leistung bekäme. Leider haben Kulturschaffende, so auch ich, in den letzten 9 Monaten keine Einnahmen gehabt. Ich lebe jetzt von Rücklagen. Andere Künstler*innen haben die vielleicht gar nicht. Leider hat die Kultur keine Lobby. Während man die Lufthansa zum dritten Mal rettet und dazu noch Mitarbeiter*innen entlässt, bekommt das Pflegepersonal keine ausreichende Erhöhung und es gibt auch keinen Fond für Kulturschaffende.“
Ich provoziere und frage: „Angesichts mangelnder Solidarität in unserer Gesellschaft, wenig Wertschätzung gegenüber Kulturschaffenden und den schrecklichen Ereignissen unserer Zeit kann Musik da überhaupt trösten?“
Kiessling wird leidenschaftlich und kämpferisch: „Trost ist kein Schönreden, Trösten ist Aufschreien und bedeutet, die Situation, in der man ist, anzuerkennen. Wer Trost braucht, der braucht niemanden, der einen sagt, dass alles gut wird. Vielleicht werden manche Dinge nicht mehr gut. Aber wenn ich eines aus meiner Zeit in Amerika lernen durfte, dann dass es in der Musik Ausdrucksformen gibt, mit schrecklichen Lebenssituationen umzugehen. Der Gospel ist aus den schwarzen Gemeinden entstanden, die in Sklaverei lebten und deren Folgen ertragen mussten. Im Gospel wird das Leid geteilt. Nicht weil es dadurch weniger wird, sondern weil die Gemeinschaft Kraft spendet und betont: Du bist nicht allein! Und in den Spirituals da wird um die Gaben gebeten, die man zum Leben braucht. Das Bitten erinnert einen an das Glück, dass man in jeder kleinen Gabe bekommt. Das ist keine Schönrederei, das ist harte Auseinandersetzung mit einer Realität, die man doch nicht ändern kann.“
Am zweiten Adventssonntag hören wir im Evangelium nach Markus die Geschichte von Johannes dem Täufer. Jemand, der in seiner Botschaft auf Jesus hinwies, der der nicht mit Wasser, sondern mit heiligem Geist tauft. Die Geschichte ist bekannt, Johannes wurde hingerichtet. Die Tiefe des zweiten Advents steckt wohl darin, dass Hoffnung im Angesicht von Katastrophen keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine schwere Entscheidung diese nicht zu verlieren, die Trauer nicht schönreden zu wollen, vielmehr sie zu akzeptieren, zu teilen und damit aufzuschreien. Man wird es also mit ganz anderen Ohren hören, wenn Thomas Kiessling am Samstag singt:
Go, tell it on the mountain! Oder in der deutschen Übersetzung: Kommt, sagt es allen weiter!
Marc-Bernhard Gleißner