Hannah Ma ist Mystikerin. In ihrem Denken ist alles mit allem verbunden. Wer nun zu bewerten versucht, dass das Esoterik sei, dem würde Hannah Ma recht geben. Für sie ist ihre Kunst mittlerweile zu einer meditativen Performance geworden, die genau dort ansetzt, wo wir als Menschen auf Sinnsuche gehen. Zusammen mit ihrem Ensemble wird sie am dritten Advent (Sa, 12.12. 2020) um 17 Uhr in der Herz Jesu Kirche das Stück ONDA (italienisch für Welle) tanzen und provoziert damit, wie es nur eine Mystikerin tun kann: Advent heißt nicht leben, sondern sterben und führt uns zurück zu der Urflut der Schöpfung, über die vor Beginn der Schöpfung Gottes Geist wehte.
Into the Unknown (dt. Hinein ins Unbekannte) ist der Untertitel von Hannah Mas neuester Stückentwicklung. Stückentwicklungen bedienen sich Künstler*innen immer gerne dann, wenn sie nicht auf vorgefertigte Stücke zurückgreifen, sondern in einen ernstgemeinten Prozess einsteigen wollen, in dem sie Ideen einbringen und durch die Arbeit im und mit einem Ensemble ihre Ideen aufgeben, sterben lassen, um etwas Größeres, eine gemeinsame Idee hervorzubringen. Zusammen mit Sebastian Purfürst entwickelte Ma eine Fragestellung, die an einen wunden Punkt unseres Daseins kratzt: Wo beginnt denn eigentlich Identität?
„Ich glaube nicht, dass Identität oder Identitätsbildung ein purer Willensakt ist. Wir können gar nicht entscheiden, zu sagen: Ich will jetzt sein. Oder: Ich bin, der und der. Mittlerweile ist neben dem komplexen sozialen Raum, noch der virtuelle Raum hinzugetreten, der von uns unterschiedliche Identitäten erschafft. Dabei wird ein dritter Raum vergessen, der noch viel wichtiger für unsere Prägung ist: Der mythologisch-archaische Raum! In diesem Raum finden wir Sinnerzählungen, die uns an etwas Größeres bindet: Gott, Kollektive, Naturgewalten. Überall, wo die mythologischen Erzählungen von der Erschaffung der Welt und der Möglichkeit der Ich-Bildung sprechen, spielt Wasser eine große Rolle. In der Bibel schwebt Gottes Geist über den Wassern. Diese Urflut setzt sich aus einer Wellenbewegung zusammen, die eine Kollektivleistung ist. Wellen können nur als Miteinander entstehen. Und diese Kollektivleistung des Seins, die ist in unseren Zellen als liquides Gedächtnis mit der Erfahrung hinterlegt, dass wir alle eins waren und sind. Unser Tanzstück ONDA. Into the Unknown versucht diese Archeformen von Bewegungen nachzuspüren, um einen Zugang an dieses uralte kollektive Gedächtnis zu finden. Dahinter steht natürlich auch die Frage: Wie kann ich als Ich erlöst sein?“
Hannah Ma schneidet damit eine schwierige theologische Frage an: Die Frage von Schöpfung, Leiden und Erlösungen. Während die Theodizeefrage nach Antworten sucht, warum Gott in seiner Welt Leiden zulässt, antwortet die Theologie mit einem komplexen Aussage, die ein Geflecht von Schöpfungs- und Heilsmittlerschaft webt. Während Gott sich in der Natur und der Geschichte als Herr seiner Schöpfung zeigt und wie es in Jesaja heißt (Jes 61, 11), die Saat seines Bodens sprießen lässt, so kennt diese Schöpfungsmittlerschaft Schuld und Leid. Die Heilsmittlerschaft des christlichen Glaubens liegt in der Hoffnung „auf die Ankunft des Herrn“ – wie es bei Paulus (1 Thess 5, 23) heißt, der die Welt von Sünde und Leid befreit. Im Advent sollen nun Schöpfung- und Heilsmittlerschaft in der Geburt Jesu Christi versöhnt werden. Ist das nicht zu viel Theologie für ein Tanztheaterstück?
Hannah Ma gibt sich abermals als Mysterikerin und zeigt, wie die Dinge miteinander verbunden sind: „Ich habe viel in Südafrika gearbeitet. Meine Kunst ist mittlerweile sehr stark davon geprägt, andere kulturelle Perspektiven zuzulassen. In Südafrika habe ich die Folgen des Kolonialismus mitbekommen und sehe, wie man immer noch versucht, die europäische Ästhetik auf andere Kulturen aufzupropfen. Dadurch entsteht viel Leid auch in der Kunstproduktion, weil kulturelle Identität immer in einer Machtabhängigkeit gedacht wird. Europa schwebt über allem und verbietet eine eigene Identität jenseits der Hierarchie. In Südafrika habe ich eine Kunst kennengelernt, die weg von der Autorität des Erzählers, Choreographs, der Idee führt und hin zur Auflösung des Einzelnen im Ensemble. Und so entsteht Diversität. Der einzelne löst sich beim Tanz auf und bringt das Kollektiv zum Leben. Das Kollektiv entwickelt so eine viel größere Kraft, die hinter mir selbst steht und die ich aber nur erfahre, wenn ich bereit bin, meinen Egoismus zugunsten des Ensembles aufzugeben. In ONDA wird Wasser zur Metapher, zum sich Hingeben und Tragenlassen von den vielen Menschen, die uns umgeben.“
Bei all dieser Wassermetaphorik stellt sich die Frage: Wenn wir als Wasser in die Welle aufgehen, verlieren wir dann nicht unsere Unterschiedlichkeiten? Wo bleibt dann die Diversität, die ein Ensemble, eine Kirche oder eine Gesellschaft so bunt machen? Hannah Ma lacht weise: „Ein Kollektiv ist keine Gleichmacherei. Sie braucht den Einzelnen, die Differenz, den Widerspruch, die Vielförmigkeit. Es geht nicht um die Auflösung des Ich im Kollektiv, sondern um ein Zulassen des Ichs, das sich nicht am Egoismus festklammert. Egoismus ist ein Festharren an einer schuldhaften Sicherheit, weil ich mir und anderen nicht vergeben kann. Ich kann immer noch sagen, das ist meine Schuld oder daran bin ich nicht schuld. Loszulassen und sich in einem Kollektiv tragen lassen, bedeutet, dass ich im Anderen schon erlöst bin. Das heißt unser jetziges Ich muss sterben, damit es anerkennt, dass es schon erlöst ist und keinen Erlöser mehr braucht.“
Eine ähnliche Provokation hat Eugen Drewermann in seiner Theologie schon formuliert. Es hätte den Tod Jesu nie benötigt, um die Menschheit von Tod und Sünde zu befreien. Hannah Ma interpretiert Drewermann auf die Schöpfungsgeschichte: Der Mensch ist als Geschöpf Gottes schon in der Urflut allen Ungeschaffenen als erlöst oder vielmehr aufgelöst angelegt. Gottes Geist, der darüber schwebt, ist Sinnbild dieser Zusage an den Menschen, in der Gemeinschaft des Wassers frei von Schuld zu sein.
Wenn man sich diesen Gedanken zumutet, bleibt für den Advent die kritische Frage: Warum tauft Johannes mit Wasser und Jesus mit dem Heiligen Geist? Hanna Ma antwortet: „Weil wir Menschen nicht daran glauben, dass wir schon im Wasser, in der Welle an Gott teilhaben, sondern wir brauchen dazu das klare Zeichen Gottes. Aber das ist eigentlich nicht notwendig.“
Hannah Ma tanzt sich mit ihrem Ensemble in ONDA zur Urflut zurück. Für sie heißt Advent: Sterben. Das Ich in seiner egoistischen Verhaftung muss sterben, damit es sich selbst in seiner Identität im Kollektiv auflöst und erlöst. Erst dadurch sei Identität möglich und auch die Erfahrung von Gott. Der Philosoph Michel Foucault schreibt zum Ende seines Werks Die Ordnung der Dinge, dass der Mensch, als Kategorie nur eine Erfindung der jüngeren Wissenschaft sei: Der Mensch verschwindet, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ Eine recht provokative Deutung von Advent…dem Ende aller Dinge.
Marc-Bernhard Gleißner
Infobox:
Choreografin: Hannah Ma ist eine deutsch-chinesische Choreografin, die in Wien, Stuttgart und Hagen ausgebildet wurde. Als Tänzerin hatte sie an vielen Theatern Engagements, so auch am Theater Trier. 2014 gründete sie ihre eigene Company „hannahmadance“: https://www.hannahmadance.com/
Tänzer*Innen:
Ritsuko Matsuoka wurde in Japan geboren und begann 2004 mit dem Tanz. Sie trainierte an der Ballettschule in Washington, der königlichen Ballettschule in Antwerpen und dem sommerintensiven Ballett auf Grand Canaria. Sie schloss ihr Tanzstudium an der Folkwang University of Art 2018 ab. Mit Hannah Ma arbeitet sie seit 2019 und war in den Produktionen WANDERER und Sylphides- human, fishes, birds zu sehen.
Christin Reinartz begann ihre berufliche Ausbildung 1999 an der staatlichen Ballettschule Berlin. 2008 bis 2015 hat sie an verschiedenen Theatern in Deutschland gearbeitet. Seit 2015 arbeitet Christin Braband als freischaffende Tänzerin und Tanzpädagogin (Bachelor in Kindheitspädagogik). Mit Hannah Ma arbeitet sie seit 2015 und war in den Produktionen, Nutkracker, H.E.R.O.E.S, WANDERER und Sylphides- human, fishes, birds zu sehen. Sie arbeitet zusätzlich als Hannah Mas Referentin.
Sergio Mel wurde in Brasilien geboren, wo er lange als Tänzer und Choreograf gearbeitet hat, bevor ihn seine beruflichen Wege u. a. nach China führten. Er arbeitet als multimedialer Performer und beherrscht verschiedenste Tanztechniken wie Capoéira und Noveau Cirque. Sergio Mel lebt seit 2015 in Luxemburg und arbeitet seit 2016 mit Hannah Ma. Er war in den Produktionen, Nutkracker, H.E.R.O.E.S, WANDERER und Sylphides- human, fishes, birds zu sehen und arbeitet auch als Hannah Mas Assistent und Probenleiter.