Vorabendmesse, 18. Dezember 2021, 17 Uhr, Herz Jesu Kirche – Choreografie mit Maher Abdul Moaty
Niedrigstand im vierten Advent. Auf der To-Do-Liste steht etwas von „Weihnachtsbaum besorgen“ und trotzdem will keine Adventsstimmung aufkommen. Schlimmer noch: Bei einer Recherche zu Weihnachtsbäumen wird überall darauf hingewiesen, dass das Fällen von Weihnachtsbäumen unökologisch sei und keine gute Klimabilanz habe. Wie soll da noch Weihnachten überhaupt stimmungsmäßig Einzug halten können?
Der Choreograf Maher Abdul Moaty hat sich als glaubender Muslim dem Thema Wachstum aus der Perspektive des Baumes genähert: Wachsen ist ein langwieriger Prozess, der Verzeihen und Vergeben bedeutet. Niedrigstand zum vierten Advent: Wachstum lernen!
Es ist überraschend, was Ökologen herausgefunden haben, als sie ein Wildreservat in den USA wieder aufgeforstet haben. Ganz langsam wuchsen die Bäume, doch als die Bäume in voller Pracht im Nationalpark standen, veränderte sich erst das Wetter und dann das Klima. – Was war geschehen? Mit den Bäumen wuchsen Pflanzen und Pilze, Insekten siedelten sich an, Leben entstand in jeder möglichen und unmöglichen Nische des Ökosystems. Dann siedelten sich größere Tiere an, sogar Wölfe. Durch Flora und Fauna veränderte sich der Flussverlauf, es entstand mehr Sauerstoff und in Folge gab es mehr Regen. Der ausgedörrte Fluss wurde neu gespeist und das Wasser floss in Strömen.
Doch kann man aus der Ökologie des Baumes eine Spiritualität des Baumes entwickeln? Maher Abdul Moaty beantwortet die Frage für sich selbst mit: Ja. Von den Bäumen lernen, heißt für ihn Wachstum lernen. Dieses Wachstum setzt er choreografisch um.
Der erste Teil der Choreografie ist trocken und demütig: Es läuft keine Musik! Aus letzter Kraft des Körpers stellen Bewegungen das letzte Reservoir von Rhythmus und Melodie dar. Aber es handelt sich hier nicht um einen lebensbejahenden Rhythmus. Der Körper ist nach unten gebeugt, die Hände führen Schläge aus, als Verlängerung des Arms dienen Äste, die den Körper selbst kasteien. Die toten, abgeschlagenen Äste stehen für ein seelisches Austrocknen. Selbstbestrafung als selbstverletzender Akt schafft keine neue Kraft, kein neues Leben, es forciert den Niedrigstand nur. Hier ist keine Beziehung mehr möglich: Sich mit aller Kraft selbst zu bestrafen, lässt die letzten Quellen ausbluten. Bäume lassen ihre Äste fallen, Seele und Körper trocknen aus.
Im zweiten Teil der Choreografie antwortet Moaty mit der Spiritualität des Baumes: Wenn Deine Kräfte ausgetrocknet sind, die Flussarme und Dein Körper kein Wasser mehr führen, ist die Anerkennung des eigenen Niedrigstands notwendig, aber sie ist kein Fehlen oder Fehler, sondern ein Aufruf zum Wachsen. Die eigenen verkümmerten Triebe, Blätter und Äste wollen liebevoll angenommen werden. Nicht die Selbstkasteiung, sondern die Selbstliebe, das Ausloten der eigenen Ressourcen führt zum eigenen Wachstum. Nicht der kritische Blick darauf, wieviel Kraft man noch hat, nicht die innere Ablehnung, weil nichts mehr geht, sondern die zärtliche Zuwendung von dem, was man kann und hat. Dann wird für Maher Abdul Moaty Wachstum möglich. Und mit dieser liebenden Anerkennung kann wie im Wildreservat ein neues Biotop entstehen. Für Moaty bedeutet Wachsen sich annehmen, sich verzeihen und lieben und genau dann kann die Beziehung zu einem anderen Menschen, zur Welt und zu Gott sich wieder in seiner ganzen Buntheit entfalten.
Die Spiritualität des Baumes macht Mut, obwohl Wachstum ein schwerer und schmerzhafter Prozess sein kann. Doch an dessenEnde steht Wasser, Energie, Liebe und Anerkennung in Fülle. Dieser Prozess ist eine Zeit der Gnade. Die Hoffnung ist die Versöhnung mit sich selbst, dem Anderen, der Welt und Gott.
– Marc-Bernhard Gleißner