Bilder aus dem Musical Godspell(1973) – Das Gleichnis vom Sämann
522.821. Das ist keine Telefonnummer. Das ist die Zahl der Menschen, die im Jahr 2022 die katholische Kirche in Deutschland verlassen haben. Die allermeisten wahrscheinlich für immer. 522.821. Mehr als eine halbe Million. In unserer Pfarrei St. Matthias waren es übrigens 218. Also: noch nicht die Zahl derer, die in der Christmette waren – aber eine gut besuchte Osternacht schon.
Über die Gründe haben wir schon oft nachgedacht und gesprochen. Das Menschenbild, das der Katechismus lehrt, ist vormodern: es schreibt den Geschlechtern Rollen zu, die meist auf eins hinauslaufen: die Männer herrschen, die Frauen dienen. Sex geht nur in einer Ehe zwischen einer Frau und einem Mann – für immer und ewig. Entscheidungen werden von Klerikern getroffen. Und all das hat Gott so gewollt – per saecula saeculorum. Und vor allem die sexuelle Gewalt gegen tausende von Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen – und ihre Vertuschung durch Bischöfe und höhere Kleriker.
Gerade den treuesten Katholik*innen reißt der Geduldsfaden. Zum ersten Mal sind es über 200.000 mehr Katholische Kirchenaustritte als Evangelische. Da waren es nur 350.000. Nur in Anführungsstrichen. Es scheint also immer mehr spezifisch katholische Gründe zu geben.
Der Synodale Weg hat versucht, die kircheneigenen Bedingungen für die sexuelle Gewalt zu erkennen und aufzubrechen. Bisher wurden alle Reformansätze vom Vatikan kassiert. Auch dem Papst scheint der Deutsche Weg zuwider. Er fordert „Zuhören“, wie auch seine kardinalen Sprachrohre. „Wir müssen zuhören. Aber eine Revolution in der Lehre wird es nicht geben“ – sagt zum Beispiel Kardinal Hollerich – ganz aus der Nachbarschaft. Der Papst hat bisher den Vorstand des „Synodalen Weges“ nicht persönlich angehört – aber 2 massive Kritiker als Mitglieder in die nächsten Weltsynode berufen. Da macht „Zuhören“ doch so richtig Spaß.
Und jetzt? Was machen wir damit? Hier in Herz-Jesu?
Gehen wir auch? 2023 noch – oder spätestens 2024?
Sie sind noch da. Ich bin es auch. Ich kenne einige von Euch, die sagen: „Ich bin noch in der Kirche, weil es St. Sredna hier in Herz-Jesu gibt. Ohne „sredna“ wäre ich auch schon ausgetreten.
Ich selbst fühle mich auch oft genug unter diesem Rechtfertigungsdruck: Wie kannst Du Priester einer solchen Organisation sein, in der Menschenrechte mit Füßen getreten werden?
Warum bin ich noch da – und warum bleibe wohl auch?
Die erste Antwort ist wenig heldenhaft:
Ich bin wirtschaftlich auf die Kirche angewiesen. Ich bin 64 Jahre alt. Ich habe nichts anderes gelernt als „Pfarrer“. Der Bischof hat mich und die anderen Priester als so eine Art „Beamte“ angestellt. Klingt erstmal schön: er hat mir damit versprochen, dass er bis zum Ende meines Lebens für mich sorgen wird. Deswegen musste er aber für mich nichts in die Rentenversicherung einbezahlen. So bekomme ich keine Rente. Der Bischof zahlt natürlich nur, wenn ich „loyal“ bin – bis zum Ende meines Lebens. Das war bisher in Trier noch kein Problem, aber wer weiß, ob es in Zukunft eins wird, je nachdem, wer auf dem Stuhl des Hl. Eucharius sitzen wird.
Ich stamme nicht aus einer wohlhabenden Familie, ich habe nichts geerbt. Schätze anhäufen kann man mit einem mittleren Lehrergehalt in der Steuerklasse I nicht. Ich beklage mich nicht, im Gegenteil. Es geht mir sehr gut. Ich habe viel mehr als ich zum Leben brauche, kann Projekte und Organisationen finanziell unterstützen, habe eine tolle Wohnung und eine sinnvolle Arbeit. Bin mehr oder weniger mein eigener Herr. Gerade jetzt in der Krankheit bin ich gut abgesichert. Da geht es mir besser als vielen meiner Mitmenschen. Das alles hat seinen Preis: „Einigermaßen brav sein, im Sinne der Kirche.“
Im Alter will ich der Allgemeinheit nicht auf der Tasche liegen. Also werde ich allein schon aus diesem Grund Kirchenmitglied bleiben. Bleiben müssen.
Ich habe kein Problem damit, mich von der Kirchensteuer bezahlen zu lassen. Die gehört ja nicht dem Bischof und er tut nichts dafür. Er soll sie nur treuhänderisch verwalten. Die Kirchensteuer zahlen die Kirchenmitglieder – und ich habe immer von den Rückmeldungen aus gesehen immer noch den Eindruck, dass ich „mein Geld wert bin“. Auch jetzt.
Ich will diese Kirche auch nicht verlassen, weil es da immer noch so viele tolle Leute gibt – denen es um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit geht. Und die nicht müde werden, dafür zu kämpfen. Ich erlebe sie in sozialen Projekten und in der Klinikseelsorge, in den Zeltlagern der Jugendverbände und in glaubwürdigen Ordensleuten. Ich fühle mich ihnen nah und verbunden – der „underground church“ – die oft unsichtbar durch das Wirken des Gottesgeistes verbunden ist. Die „Kirche der Graswurzeln“ ist für mich ein Grund zu bleiben.
Ich will die Kirche nicht den Konservativen überlassen. Ihre Vorstellungen von Kirche und Glaube, ihre Traditionen, reichen oft nur 200 Jahre zurück – ins 19 Jahrhundert, oder maximal noch in 16. Jahrhundert – in die Zeit der Kirchenspaltung. Im 16. Jahrhundert war die Kirche von Trier schon 1.300 Jahre alt. Unsere Tradition, die lebendige Weitergabe des Glaubens, lebt schon seit 1.700 Jahren – seit Albana und Eucharius. Diese wirkliche Tradition lasse ich mir von sogenannten Traditionalist*innen NICHT nehmen.
Und: Gott hat mich durch die Taufe in die Nachfolge Jesu berufen – und damit in die Gemeinschaft derer, die ihm folgen. Ich habe zu diesem Ruf mein JA gesagt in der Firmung und in der Weihe zum Diakon und zum Priester. Aus diesem Ruf Gottes lasse ich mich von niemandem herausdrängen.
Am Herz-Jesu-Fest vor 4 Wochen konnte ich in verschiedenen Gesprächen erleben, dass die Menschen hier im Viertel sehr wohl unterscheiden: sie kritisieren die Kirche als Organisation und Institution – aber sie schenken Menschen, die sie persönlich als „glaubwürdig“ erleben, ihr Vertrauen. Immer noch. Zum Beispiel auch uns, hier in Herz-Jesu, bei sredna. Das macht mich demütig und dankbar. Für sie habe ich auch eine Verantwortung zu bleiben. Ihren Anliegen eine Stimme zu geben und ein Gesicht.
Und ich bin noch in dieser Kirche, weil hier solche wahnsinnigen Geschichten erzählt werden – wie die Geschichte vom Sämann oder vom Vielerlei Acker oder vom Guten Boden oder der vielen Frucht… wie auch immer.
Diese Geschichte ist so anders als alles, was wir um uns herum hören. Man könnte die Geschichte als eine Geschichte vom „Versagen“ erzählen, vom Scheitern: Soviel Saatgut wird verschleudert – es wird von den Vögeln aufgepickt, vertrocknet auf dem Felsen, wird um Unkraut erstickt.
Ich höre die Unken schon rufen: das hättest Du doch kommen sehen müssen, das kann doch nix werden, das klappt doch niemals, hättest du mal besser eine Bodenprobe gemacht, eine Bedingungsfeldanalyse, such anderes Saatgut, und so weiter und so weiter… eine Geschichte vom Verplempern, vom Verschwenden und Versagen.
Aber Jesus erzählt sie als eine Geschichte vom Gelingen:
Am Ende wird es reichen. Es wird genug für alle da sein – 100, 60, 30fach. Die Frucht, die Ernte werden reichen. Gott unser Schöpfer wird dafür sorgen. Für alle. Auch für uns.
Was genau reichen wird und wie das geht – das ist eines der Geheimnisse dieser Geschichte. Sie fasziniert mich so, dass ich von ihr nicht lassen kann – und lassen will. Das „es wird reichen“ ist mir im Ohr und im Herzen. Deswegen lasse ich mir die Freude und den Humor nicht verderben, auch wenn es gerade nicht so spaßig ist.
Ihr Lieben,
ich werde also bleiben. Aus unterschiedlichen Gründen. Ob das irgendwen überzeugt, weiß ich nicht. Ich rechne nicht damit, dass ich, dass wir die über 600.000 halten oder gar zurückbringen, die in diesem Jahr gehen werden. In der Pfarrei St. Matthias waren es bis Ende Mai schon 90.
Trotzdem: Gott wird für die Wirksamkeit seines Wortes sorgen, für den Aufbau seines Reiches. Lassen wir uns also nicht verrückt machen. Nicht von links und nicht von rechts, nicht von oben – und nicht von uns selbst. Es wird reichen! Amen.
Gleichnis vom Sämann im Musical „Godspell“ (1973)
Lied “All good gifts” im Musical “Godspell” (1973).