Lebenszeichen 42: Lasst die Seelsorger rein!

Ein dringender Appell:
(Quelle: DIE ZEIT 17/2020)

Klinikpfarrer und Krankenschwestern, Theologen und Chefärzte begehren auf gegen die Totalabschottung der Schwächsten

VON EVELYN FINGER

Es gibt in Deutschland jetzt zwei Normalitäten. In der einen hofft man, dass die Kinder bald wieder zur Schule dürfen. In der anderen ist es verboten, sterbende Eltern ein letztes Mal zu sehen. So geschah es vor Ostern den Kindern und Enkeln des 90-jährigen Pfarrers Helmut Bach, der in einem Heim in Württemberg starb, nicht an Corona. Er hatte noch Glück, dass die Ehefrau am Tag vor seinem Tod Zutritt bekam, nachdem sie immer wieder gebeten hatte, ob ein Besuch möglich sei. Allerdings war die Vorgabe, sie müsse eine Maske mitbringen, da das Heim nicht ausgerüstet sei. Immer mehr Fälle erreichen uns in der Redaktion, bei denen wir uns fragen, ob dies das neue Normal ist: Jung gegen Alt? Gesund gegen Krank? Mittlerweile wird sogar Seelsorgern der Zutritt zu Heimen verwehrt. Wir haben mit Profis gesprochen, die finden, das geht anders.
Achim Esslinger, 55, Notfallseelsorger
In der Nacht zum Karfreitag wurde ich gerufen, weil ein 38-jähriger Vater* von zwei Kindern mit Corona-Symptomen zu Hause geblieben war, statt sich behandeln zu lassen. Nun ist er tot. Ich kenne seine Beweggründe nicht, frage mich aber, wie groß die Angst, jetzt in eine Klinik zu kommen, in diesem Land bereits ist. Ich bin ja nicht nur koordinierender Notfallseelsorger, sondern auch Krankenhauspfarrer in Göppingen, dort haben wir uns in den letzten Wochen so intensiv auf die Katastrophe vorbereitet, als wäre sie schon da: also auf die Überlastung unserer 200 Betten und 50 Beatmungsgeräte für Infizierte. Gott sei Dank blieb der Ansturm, den wir für die Karwoche befürchteten, aus. Nun haben wir leere Betten. Unser Fieber-Kontroll-Zelt steht, zusätzliche Helfer sind bereit, wir haben die Kollegen in Krisenintervention geschult und vorgesorgt, dass Angehörige wie auch Seelsorger weiterhin zu Sterbenden kommen dürfen.
Zugleich gewinne ich den Eindruck, meine härtesten Fälle ereignen sich außerhalb der Klinik. So wurde ich wegen einer 67-jährigen Frau* gerufen, die nicht mehr reanimiert werden konnte. Auch sie hatte unter Husten, Fieber, Atemnot gelitten. Die verzweifelte Tochter berichtete mir von den letzten qualvollen Stunden und ihrer eigenen Hilflosigkeit: wie sie und die Hausärztin vergeblich versuchten, die Mutter zu bewegen, sich in die nahe Klinik einweisen zu lassen. Sie wollte partout nicht, auch weil sie um die Besuchsverbote wusste. Seither bedrängt mich die Vorstellung: Wollte diese Frau tatsächlich lieber zu Hause sterben, als in ein Krankenhaus zu gehen?Die Zugangsregeln für Krankenhäuser und Pflegeheime wurden von den Bundesländern über die vergangenen Wochen unterschiedlich hart formuliert. Doch in allen Ländern wurden die Regeln sukzessive verschärft. Manche Einrichtungen schotteten sich anfangs schon stärker ab als zulässig. Das Argument: Infektionsschutz! Tatsächlich erscheinen manche Härten nicht nur inhuman, sondern auch sinnlos.

Tanja Szabo, 47, Fachkrankenschwester
Am meisten bewegt mich das Schicksal meiner Patienten in den Pflegeheimen, die ich nicht mehr besuchen darf. Ich arbeite seit 1994 als Krankenschwester, seit 2018 mache ich »aufsuchende akutpsychiatrische Behandlung« bei älteren Menschen jenseits der 65, die zum Beispiel unter Schizophrenie oder Demenz leiden. Zu meiner Arbeit gehören Medikamenteneinstellung, Gesprächsführung, Pflege und vieles mehr. Doch mittlerweile erreiche ich nur noch die, die zu Hause leben. In die Heime durfte ich anfangs noch mit Mundschutz und Handschuhen, nach und nach aber wurden die Bedingungen unzumutbar: Ich sollte Heimbewohner im Foyer, mitten im Durchgangsverkehr treffen. Für die Blutabnahme musste ich um einen eigenen Raum kämpfen. Da durfte ich mit meinen Patienten noch spazieren gehen. Jetzt herrscht seit drei Wochen Spaziergangsverbot. Wir gelten als Gefahr, obwohl Heimmitarbeiter und Lieferanten ein und aus gehen. Alte müssen allein auf dem Zimmer essen – warum dürfen sie das nicht mit Abstand im Speisesaal? Warum wird kein Raum eingerichtet, um Angehörige zu treffen und dabei trotzdem die Abstandsregeln einzuhalten?
Man muss doch den Menschen sehen! Wenn Patienten mir am Telefon sagen, sie würden so gern mit mir spazieren gehen, dann könnte ich heulen. Auch die, die zu Hause wohnen sind teils hilflos, weil die Tagespflege nicht mehr geöffnet hat, wo sie tagsüber hingehen können. Auch die Kaffee-Treffpunkte und Mittagessenangebote der kirchlichen Träger fallen derzeit weg. Nun kaufe ich für Patienten ein. Sie sagen mir: Wir sind nicht mehr erwünscht. Und ich denke: Wenn das meiner Mutter so ginge! Was ist das für ein Schutz, wenn Patienten darunter leiden? Hart war, dass ein Heim mir verschwiegen hat, dass die Zimmernachbarin einer meiner Patientinnen ein Corona-Verdachtsfall war. Gut tut, dass unser kleines Team aus fünf Schwestern und zwei Ärzten, die zum Klinikum Stuttgart gehören, sich ständig austauscht und berät. Dass wir uns einig sind. Wenn die derzeit uneinheitliche Lage im Umgang mit Zugangsregeln einen Vorteil hat, dann den: Es gibt Einrichtungen, die Vorbild sein können, weil sie zeigen, dass man Infektionsschutz gewährleisten, aber trotzdem Besuch und Seelsorge ermöglichen kann.

Christine Thomas, 59, Chefärztin
Bei uns am Klinikum Stuttgart hat sich vieles verändert, aber die Seelsorger sind weiter aktiv, natürlich auch auf den Corona-Stationen. Das hat nichts mit Leichtfertigkeit zu tun, sondern mit Professionalität. Als Ärztliche Direktorin unserer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie für Ältere bin ich verantwortlich für 110 teilstationäre Plätze, und wir betreuen etwa 1100 Patienten ambulant, davon 400 zu Hause, die anderen in Heimen. Wir haben 15 Ärzte, 60 Pflegekräfte, acht Sozialarbeiter, dazu Spezialtherapeuten. Natürlich ist jetzt Vorsicht geboten. Als wir Anfang März unter dem Klinikpersonal den ersten Corona-Fall hatten, habe ich entschieden, keine Visiten mehr in den Heimen zu machen. In der Klinik arbeiten wir jetzt alle mit Mundschutz und im weißen Kittel und Hose. Natürlich schränken wir Zugänge ein, aber wir schotten uns nicht ab.
Die Patienten dürfen von einer Person Besuch erhalten und sich auch zum Spaziergang treffen, wenn derjenige die Fieberambulanz passiert hat. Jede Neuaufnahme wird abgestrichen und einen Tag isoliert, bis wir das Ergebnis haben. Zum Schutz gehört, jeden Tag nachzuregulieren. Worauf ich stolz bin? Dass wir Masken für Besucher haben. Dass unsere Patienten mit Abstand, aber gemeinsam essen. Dass Therapie in kleinen Gruppen in großen Räumen stattfindet. Normalität hilft gegen die Angst. Ich finde es erschreckend, wie schnell Seelsorger jetzt aus manchen Kliniken gedrängt werden. Seelsorge ist unverzichtbar, weil sie Menschen auffängt, wo wir Mediziner es nicht mehr können. Deshalb gehen unsere Seelsorger auf die Intensivstation und sind auch für Mitarbeiter da. Der Shutdown der Heime ist schrecklich. Ich sehe aber auch, dass es viele unverständige Verwandte gab, und dass Heime frühzeitig beschuldigt wurden, ihre Bewohner zu gefährden, weil sie sich angeblich nicht genug verschließen. Besuchsmöglichkeiten dürfen jedenfalls nicht der Willkür überlassen sein. Und undenkbar ist, Sterbende alleinzulassen – ob in der Klinik oder privat. Ich bin überzeugt, wir dürfen den Alten nichts zumuten, was wir nicht auch der Gesamtbevölkerung zumuten.

Günter Thomas, 59, Theologe
Durch die Arbeit meiner Frau in der Klinik, aber auch durch meine Mutter, die im Pflegeheim lebt, war ich frühzeitig alarmiert. Ich habe gemerkt: Es fehlen Schutzmasken. Bei meiner Mutter war es so, dass wir sie nicht mehr besuchen durften. Es gab ein kategorisches Nein. Das Heim, dem es an Masken mangelte, hatte ich auf sehr gute nicht zertifizierte Masken hingewiesen. Das wurde jedoch abgelehnt mit der Begründung, der evangelische Träger würde sich selber um zertifizierte kümmern. Allerdings, wie ich hörte, in viel zu geringer Stückzahl. Es wundert mich nicht, wenn Seelsorger jetzt wegbleiben, weil es keine Schutzmasken gibt. Noch schlimmer finde ich als Theologe aber die Sprachlosigkeit meiner Kirche angesichts des Sterbens in Isolation.
Die Bischöfe nehmen das hin. Was ist mit dem Treueversprechen der Kirche, Menschen nicht alleinzulassen? Gottesdienst kann ich nachholen, aber eine würdige Sterbebegleitung und Beerdigung nicht. Wieso darf jeder Kleinlaster mit Gips Landesgrenzen überqueren, aber Angehörige haben Schwierigkeiten, zur Trauerfeier für den Vater zu gelangen? Warum höre ich keinen Protest? Warum sollen Mediziner die Corona-Kranken behandeln, aber die Kirche bleibt auf Geheiß von Heimen und Kliniken draußen, ohne sich um Schutzausrüstung auch nur bemüht zu haben? Das beschädigt das Ethos des Helfens. Viele Humanisten sehen das klar. Und viele Theologen und Pfarrer sind empört über die Botmäßigkeit der Kirche gegenüber staatlichen Anordnungen. Erst hat die Politik versäumt, Schutzmasken für Heime zu bestellen. Jetzt wird dieser Mangel an Fürsorge kompensiert durch Abschottung. So gebiert ein Fehler den nächsten. Die Soziologen nennen das eine Pfadabhängigkeit von Entscheidungen. Ich wünsche mir, dass wir Fehler zugeben und nachbessern. Die Kirche darf nicht durch vorauseilenden Gehorsam den Streit um tragbare Lösungen vermeiden. Meine Sorge ist, dass die gefährdeten Alten jetzt den Preis für die Freiheit der Jungen zahlen, weil die zuerst Schutzmasken bekommen. Jesus sagt: »Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.« Das ist eine Verheißung und ein Auftrag, der gilt für jeden Theologen, Pfarrer, Bischof: Wenn die Medizin am Ende ist, gibt es immer noch uns. Zu den Abwehrargumenten, wenn man die zu starke Isolation der Alten kritisiert, gehört jetzt auch die Behauptung, Härtefälle seien Einzelfälle. Deswegen lohnt es sich, in verschiedene Bundesländer zu schauen und auch Menschen zu fragen, die viele Einrichtungen überblicken.

Anne Heimendahl, 55, Seelsorge-Koordinatorin
Bis vor zwei Jahren war ich selbst Krankenhaus-Seelsorgerin, heute bin Landespfarrerin für Krankenhaus- und Altenpflegeheimseelsorge – verantwortlich für 120 Seelsorger der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. In allen Verordnungen zu Corona, die ich kenne, ist der Besuch Sterbender in Krankenhäusern und Pflegeheimen erlaubt. Aber es fehlen nicht nur Schutzausrüstungen, es fehlen auch Seelsorger. Bei einem ersten Besuch erleben Seelsorger oft, dass der Kranke mit einem schlechten Gewissen reagiert, wenn er kirchenfern ist. Das muss niemand! Kirchenmitgliedschaft ist keine Eintrittskarte für Beistand, wir klopfen an jede Tür und sind dazu da, dass Leidende ihren Schmerz und ihre Trauer zulassen können.

Steffen Reiche, 59, Pfarrer
Zu meiner Gemeinde in Nikolassee gehörte einst der Kirchenliederdichter Jochen Klepper, der sich 1942 zusammen mit seiner jüdischen Frau das Leben nahm, weil ihr die Deportation drohte. Zu der Beerdigung kamen 400 Trauergäste. Und jetzt wegen Corona sollen wir solche Angst haben, dass nicht mal ein Dutzend Trauergäste zugelassen sind auf dem Friedhof, draußen im Freien? Jetzt den direkten Trost zu unterlassen, das wäre ja wie Kirche ohne Karfreitag. Neulich habe ich in Schutzkleidung eine Frau im Heim ausgesegnet. Und wo viele Heimbewohner infiziert sind, wer wenn nicht die brauchen jetzt Trost. Seelsorge ist die Muttersprache der Kirche. Wenn wir die in Notzeiten nicht sprechen, sind wir auch sonst überflüssig. Wo ich gerufen werde, da gehe ich hin. Das ergibt sich schon aus meinem Ordinationsgelübde. Und wenn ich die Infektionsschutzregeln einhalte: Was bitte spricht dann gegen Seelsorge? Nichts!

Dorothee Schieber, 57, Altenseelsorgerin
Ich darf als Pfarrerin nicht mehr hinein in »meine« zwei Heime in Göppingen mit je über 90 Bewohnern – und fürchte, dass es noch lange so schlimm bleibt für die Alten. Heimbewohner dürfen nicht mehr raus, weder spazieren noch einkaufen, allenfalls für wenige Minuten mit einem Betreuer in den Garten. Sie sind eingesperrt. Bei Pflegebedürftigen gehen wir über das Recht auf Selbstbestimmung viel zu schnell hinweg. In den Osterpredigten, auch beim Ratsvorsitzenden, hieß es jetzt, wir sollen an die denken, die allein sterben. Da dachte ich: Nein! Wieso akzeptieren wir das? Wir opfern die Alten regelrecht. Ich habe mir einen Schutzanzug und eine hochwertige Maske besorgt, damit man mich nicht so leicht wegschicken kann.

Michael Rohde, 46, Militärdekan
Seelsorge soll wegen Corona nicht erlaubt sein? Warum das denn bitte? Ich komme grad vom Dienst als Seelsorger im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg und war heute auch bei sterbenden Corona-Patienten. Natürlich geschützt. Das ist keine ethische oder virologische Frage, sondern vor allem abhängig von Ressourcen wie Masken und Schutzanzügen. Das gilt auch für Besuche von Angehörigen. Nach meiner Berufsauffassung ist es egal, woran jemand erkrankt ist: Wenn ich gerufen werde, gehe ich hin. Bei uns im Bundeswehrkrankenhaus sind auch Besuche von Angehörigen weiterhin möglich. Wir tun alles Menschenmögliche, damit sich hier niemand infiziert. Einschränkungen machen wir als Profis aber nicht zuerst bei den Kranken, sondern bei uns selbst. Wir sind zu Hause in der Familie jetzt extrem heikel mit Kontakten, schränken auch unsere Kinder ein. Das ist schwer. Aber ich halte es für ein Menschenrecht, dass niemand allein sterben muss.

Hans Stiegler, 62, Dekan
Ich möchte mich an dem orientieren, was ich aus der Bibel herauslese. Das heißt, dass ich mich jetzt natürlich an Vorschriften zum Schutz anderer halte. Aber ich muss da sein, gerade wenn Alte und Demente jetzt keinen Familienangehörigen mehr zu sehen bekommen und nicht verstehen, warum. Ich bin Dekan in Ansbach und Vizepräsident der Landessynode, vor allem aber bin ich als Seelsorger verantwortlich für ein Altenheim mit 120 Betten. Ich hatte vor einigen Jahren selbst Krebs, und gerade darum will ich jetzt das tröstliche Wort verbreiten: Wir sind nicht in der Hand von Corona, sondern von Gott. Bis jetzt habe ich meine Schutzmaske noch nicht gebraucht, aber wenn ein Infizierter mich ruft, dann gehe ich. Mein Schwiegervater ist 96, der sagte zu Ostern: Ich möchte euch schon noch mal sehen, kann ja sein, dass ich nächste Woche sterbe. Es gibt jetzt keine einfachen Antworten. Aber falsch ist, wenn wie bei uns jetzt ein 49-Jähriger mit Corona im Koma liegt, und seine Frau darf nicht zu ihm. Covid-Erkrankte sollten von engsten Verwandten besucht werden dürfen! Verbote sind katastrophal.

*Details zu Patienten wurden hier leicht verändert aus Datenschutzgründen. Beide Fälle sind aktuell

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