Persönliche Gedanken zum 1. Fastensonntag – von Ralf Schmitz.
Lesung aus dem Buch Ester.
In jenen Tagen
17kwurde die Königin Ester von Todesangst ergriffen
und suchte Zuflucht beim Herrn,
und sie betete zum Herrn, dem Gott Israels:
17lHerr, unser König, du bist der Einzige.
Hilf mir!
Denn ich bin allein und habe keinen Helfer außer dir;
die Gefahr steht greifbar vor mir.
17mVon Kindheit an
habe ich in meiner Familie und meinem Stamm gehört,
dass du, Herr, Israel aus allen Völkern erwählt hast;
du hast dir unsere Väter und Mütter
aus allen ihren Vorfahren
als deinen ewigen Erbbesitz ausgesucht
und hast an ihnen gehandelt,
wie du es versprochen hattest.
17rDenk an uns, Herr!
Offenbare dich in der Zeit unserer Not,
und gib mir Mut,
König der Götter und Herrscher über alle Mächte!
17sLeg mir in Gegenwart des Löwen
die passenden Worte in den Mund,
und stimm sein Herz um,
damit er unseren Feind hasst
und ihn und seine Gesinnungsgenossen vernichtet.
17tUns aber rette mit deiner Hand!
Hilf mir, denn ich bin allein
und habe niemand außer dir, o Herr!
Est 14 (In Auswahl; Donnerstag 1. Fasenwoche)
Predigt
Ihr Lieben,
am Donnerstagabend war wieder ein Queeres Nachtgebet hier in Herz-Jesu. Normalerweise ist es am Freitagabend – am Ende der Woche, der Einstieg ins Wochenende, der dann für einige Queere Menschen hier in der Kirche beginnt. Das Regenbogenbanner weht noch über dem Eingang.
Diesmal musste es der Donnerstag sein, weil Rabbi Alexander Grodensky aus Esch/Alzette in Luxemburg hier war und eine jüdische Perspektive in das Nachtgebet brachte. Er gehört zum „Liberalen Judentum“, ist mit einem Mann verheiratet, seit einem Jahr sind die beiden auch Eltern. Freitagabend ist der Vorabend des Schabbat, da kann er nicht weg – wegen seiner Verpflichtungen in der Synagoge und in der Familie.
https://jewish.lu/
http://a-r-k.de/rabbiner/
Als Thema hatte er das jüdische Purim-Fest vorgeschlagen, das „von außen“ unserer Fastnacht sehr ähnlich sieht: die Leute feiern ein großes Fest, verkleiden sich, machen Lärm, singen und tanzen, essen und trinken. Der Grund für dieses Fest liegt tief in der Geschichte und den Geschichten Israels.
Die Geschichte des Festes ist kompliziert: ihre Heldin ist Ester, die als naives, schönes, unpolitisches jüdisches Mädchen Königin wird und ihr Jüdischsein versteckt.
In allergrößter Not wird sie zu einer starken, mutigen, politisch handelnden Frau, die zu ihrem Jüdischsein steht und ihr Volk rettet. Gottseidank ein „Happy end“: der böse Mann „Haman“ wird vernichtet – der gute Mann „Mordechai“, ihr Onkel, wird geehrt. Esters Gebet zu Gott in der Stunde ihrer Entscheidung haben wir in der Lesung gehört.
Es war ergreifend, diese Geschichte in Szenen zu hören und zu erleben. Immer wenn der Name des Bösewichtes „Haman“ genannt wird, machen alle Lärm, stampfen wütend auf den Boden oder benutzen laute Instrumente, um ihre Abscheu auszudrücken. Unsere Karfreitagskleppern (zeigen) waren genau das Richtige dafür! Am Schluss des Gebetes wurde ein kleines Fest gefeiert – sicher nicht in biblischen Ausmaßes, aber für uns Christ*innen hat ja auch die Fastenzeit am Tag vorher angefangen.
Purim heißt zu deutsch: Lose. Der böse Haman hat das Los gezogen, an welchem Tag das Volk Israel getötet werden sollte. Es wurde der 14. Adar, in diesem Jahr fällt er auf den 7. März unserer Zeitrechnung. Am Ende wurde es der Tag, an dem er auf Befehl des Persischen Königs selbst getötet wurde.
In seiner Ansprache teilte Rabbi Grodensky mit uns einige Gedanken zum Purim-Fest. Auch wenn ich mich nicht mehr an alles erinnern kann, haben sich mir einige Gedanken eingeprägt:
Erstens. Purim ist das Fest der Lose, des Zufalls. Es gibt den Zufall in unserem Leben – das Glück, das „Masel“ und das Unglück „den Schlamasel“. Und wir tun gut daran, wenn wir das so annehmen. Das hat nichts zu tun mit Richtig und Falsch, mit Lohn und Strafe. Ob uns das eine oder das andere widerfährt, ist Zufall.
Zweitens: Es gibt das Chaos in unserem Leben und in unserer Welt. Manchmal steht alles Kopf. Das Chaos unterbricht unsere Ordnung, unsere Abläufe, unsere Gewohnheiten, unsere Bilder. Wenn die Welt Kopf steht, sieht alles anders aus. Und wir sehen: so geht es auch. So kann es auch gehen. Auch das ist das Leben, das sich lohnt gelebt zu werden.
Drittens: das Leben ist voller Paradoxe: es gibt das Gute und die Guten – Esther und ihr Onkel Mordechai. Und es gibt das Böse und die Bösen – der königliche Beamte Haman.
Im Talmud steht, dass man an Purim so lange trinken soll, bis man Haman und Mordechai nicht mehr unterscheiden kann. Viele Gelehrte haben sich den Kopf darüber zerbrochen, was das bedeuten soll. Die einfachste Erklärung: Wenn man die beiden nicht mehr unterscheiden kann, ist es Zeit, schlafen zu gehen! https://www.juedische-allgemeine.de/religion/vollrausch-als-gebot/
Vielleicht hat es aber auch etwas mit dem zu tun, was Ignatius von Loyola „Indifferenz“ nennt: gleichermaßen damit zu rechnen, dass das eine oder das andere passieren kann – und mit der Angst davor umzugehen. Indifferenz heißt, immer freier werden von dem, wodurch man sich erpressen oder verführen oder lähmen lässt. https://www.harald-klein.koeln/methodenblatt-umgang-mit-unsicherheit-und-angst/
Ihr Lieben,
von all dem lassen sich direkte Linien zum heutigen Evangelium ziehen: Bevor Jesus sich entscheidet, seinen Weg zu gehen, ist er in der Wüste. 40 Tage. Und wir können nur erahnen, wie diese Zeit gewesen ist, zumal er gefastet hat. 40 Tage „Kopfkino“. Er wird vieles hin- und her überlegt haben – er wird mal zu Tode betrübt und mal völlig euphorisch gewesen sein. Mal wird er geflucht haben – und mal wird er in tiefer Verbundenheit mit Gott „JA“ gesagt haben. Mal wird er sich ergeben haben in sein Schicksal, mal hat er Widerstand geleistet.
In den 3 kurzen Begegnungen mit dem Teufel, dem Bösen, hat er seine Unabhängigkeit und Freiheit bewahrt. Er hat sich nicht verführen und nicht erpressen lassen. Er hat den Abstand gewahrt, der ihn handlungsfähig macht.
Im Augenblick und in den letzten Wochen kann mich persönlich in all dem gut wiederfinden, mein inneres Ringen spiegelt sich darin – auch wenn ich vor anderen Fragen stehe als Ester in Persien oder Jesus in der Wüste.
Wir können dem Bösen nicht ausweichen. Es nagt uns an. Insofern ist zuerst Ehrlichkeit gefragt, Hinschauen – und nicht Wegsehen. Und damit sind wir wieder bei Ester.
Ja, es gibt den Zufall – der sich in unserem Leben als Massl und Schlamassl zeigt, als Glück und Unglück. Ja, es gibt die Situationen, wo alles auf den Kopf gestellt wird – und all unsere bisherigen Lebensstrategien nicht mehr funktionieren, aus den Angeln gehoben sind, wo das pure Chaos herrscht. Ja, es gibt die Hamans und die Mordechais in unserem Leben – die Bösen und die Guten.
Ja, wir sind verwundbar – um einen Gedanken vom Aschermittwoch aufzugreifen – aber es zeigt sich in all dem auch die Kostbarkeit des Lebens.
Es gibt diese Momente, wo es uns gelingt, das Böse auf Abstand zu halten, wo uns die „innere Freiheit“ zuwächst und wir handlungsfähig werden oder bleiben, selbstbestimmt.
Es gibt die Momente, wo in uns Tapferkeit wächst – wo wir mit Gottes Hilfe über uns hinauswachsen und Unerhörtes Unerwartetes vollbringen – wie Ester. Und Jesus.
Es gibt die Momente, wo die Guten gewinnen – wo der Teufel von uns ablässt und Engel kommen und gut zu uns sind.
Als wir am Donnerstag im Nachtgebet – wie die Jüdinnen und Juden – lärmen sollten, wenn in der Lesung des Buches Esther der Namen des Bösewichts „Naman“ fällt, hatte ich zuerst keine Lust – mir war es zu ernst ums Herz für so eine naja, „alberne“ Aktion. Ich hatte diese Klepper – und probierte sie aus. (kurz Kleppern).
Und mit der Zeit fand ich Gefallen daran. Mein Haman ist in mir drin, in der Bauchspeicheldrüse – und ich bin voller Verachtung für ihn. Irgendwann klapperte ich aus Protest und Wut (Kleppern) – und am Schluss, mit einem Lachen auf dem Gesicht, auch irgendwie siegesgewiss: Dir „Etwas in der Bauchspeicheldrüse“ wird es gehen wie dem Haman.
Und Mordechai, die schöne neue Herzklappe, wird siegen!
Amen. So sei es!
Ich war nicht in dieser Messe und ich finde diese Predigt so gut und so treffend überhaupt für diese Zeiten in denen wir leben.Außerdem finde ich es so erstaunlich ,mutig und gut persönliche Worte lesen zu dürfen.
Ja ich denke dass alle die Daumen drücken für die OP und Gesundung von Pastor Schmitz.Einem Menschen der dem Leben und dem Guten so zugewandt ist schickt Gott viele Engel bei Tag und bei Nacht
Lieber, verehrter Pfarrer Ralf Schmitz,
In St.Matthias nahm ich heute den Pfarrbrief mit, dem Ihr Brief beiliegt. Den las ich und bin schockiert und traurig. Ich habe Ihre zwei Predigten aufgerufen und betrachtend gelesen, und weiß nun, wie es um Sie steht. Ich kann es noch nicht fassen…wusste vorher nichts.
Danke für Ihre Offenheit, Ihr Mit-Teilen und Auslegen der Heiligen Schrift. Ihr Glaube, Ihre Hoffnung und Liebe sind ein großer Schatz, den Sie so praktisch mit uns teilen. Danke.
Im Gebet will ich Sie begleiten, Sr. Hildegard Nagel („Weiße Schwestern“).