Lebenszeichen 48 – Corine Pelluchon: „Freiheit, nicht Zwang“ – von Hildegard Bogerts

„Die radikalen Veränderungen, die nötig sind, brauchen Freiheit und nicht Zwang“  aus: Frankfurter Rundschau, 4. Mai 2020

Mehr Experimente wagen: Die französische Philosophin Corine Pelluchon über die fatale Wirkung von Moralpredigten und die Aktualität von Rousseaus Tugendethik, wenn sich nun wirklich auf der Welt was ändern muss

Madame Pelluchon, die Welt ist in Unordnung geraten, das Corinavirus wirbelt alles mächtig durcheinander. Überrascht Sie die Heftigkeit des Geschehens?

Die Gründe dieser Krise sind keine Überraschung. In der Vergangenheit hat die Entwaldung und die Tatsache, dass wir den Lebensraum von Tieren zerstören, zu verschiedenen Epidemien beigetragen, wie zum Ebola-Virus oder zu Sars. Wilde Tiere, die Wirte von Viren sind wie Affen oder Fledermäuse, kommen uns immer näher. Wir sind verantwortlich für die Krise, auch wenn wir sie nicht wollten.

Sind wir stark genug für solche Herausforderungen?

Wir sind sehr schwach, sehr abhängig. Die Coronakrise zeigt, dass sich die Struktur unserer Verantwortung verändert hat. Durch die Globalisierung und die Technologisierung können wir nicht mehr direkt erkennen, wo wir Schäden anrichten. Ich hoffe, dass wir aus dieser Katastrophe lernen, denn es wird noch andere Pandemien geben. Wir sollten unsere Welt anders bewohnen.

Am Horizont wartet die gigantische Herausforderung des Klimawandels, der nun zunächst in den Hintergrund treten könnte. Ist es unsere Pflicht, etwas für das Wohlergehen der nächsten Generation zu tun?

Ich denke, ja, es ist unsere Pflicht, der nächsten Generation eine bewohnbare Welt zu übergeben. Jedoch ist es vielleicht nicht die beste Methode – wie „Fridays for Future“ das tut –, die Menschen abzuschrecken, indem man sie zwingen will, ihr Leben zu ändern. Es ist sehr wichtig, dass die Menschen sich nicht in einer Ablehnung isolieren oder sich als machtlos empfinden. Sie sollten Freude haben, ihren Lebensstil zu ändern. Mir scheint, dass Greta Thunberg, die ich bewundere, zu sehr den Zwang betont, was keine gute Strategie ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Übergang zu einem anderen Entwicklungsmodell nicht nur eine Bürde ist, sondern auch eine Chance für ein gerechteres Entwicklungs­modell. Es gibt viele gute Alternativen für unsere Zukunft.

Wie ist unser Verhältnis zur Welt? Und ist das Verhältnis richtig oder müssen wir es ändern?

Eine wichtige Frage. Es gibt viele Vorstellungen über dieses Verhältnis, die uns verwirren, weil wir dazu neigen, uns als Krönung der Schöpfung anzusehen. Wir müssen unsere Beziehung zu den anderen Lebewesen jedoch überdenken und auch ändern, was eine sehr tiefgreifende Arbeit ist. Aber das ist die Pflicht der Philosophen, die Voreinstellungen der Menschen zu ändern. Dazu kommt, dass der Kapitalismus uns daran gewöhnt hat, stets gegen „die anderen“ zu kämpfen. Wir müssen lernen, andere Affekte hervorzubringen, damit wir in vielen Bereichen kooperieren und Experimente durchführen können, um so ein Glücksmodell für alle befördern zu können. Es ist eine sehr langwierige Arbeit, wir müssen hierbei auf vielen Ebenen arbeiten, auch auf dem politischen Feld. Die Pflichten des Staates haben sich geändert. Das Politische ist nicht mehr länger ein Spiel zwischen uns, den Menschen, sondern auch zwischen uns und den Tieren und der Umwelt. Die Menschen und die Politiker kümmern sich sehr um sich. Aber das Bewusstsein einer gemeinsamen Welt als Natur- und Kulturerbe aller Generationen, kann unserer Existenz einen Sinn geben. Die Krise, mit der wir konfrontiert sind, ist auch eine Chance, eine Gelegenheit, unseren Humanismus zu erneuern.

Leiden wir unter spiritueller und moralischer Verarmung?

Man kann es so sagen. Aber es ist gefährlich, sich so auszudrücken. Denn es gibt so viele Leute, die zur Moralpredigt neigen. Wir können andere nicht dazu zwingen, ihre Gewohnheiten zu ändern. Wir können sie nur überzeugen. Die radikalen Veränderungen, die nötig sind, brauchen Freiheit und nicht Zwang. Das ist die Herausforderung. Wir müssen uns ändern. In einem anderen Buch habe ich über eine Methode geschrieben, die uns helfen kann, unsere Affekte und Vorstellungen, letztlich unser Leben zu ändern. Das kann eine Chance für ein neues Zeitalter sein. Ich nenne es das Zeitalter der Lebendigen.

Was bedeutet das?

Es gibt viele junge Leute, die sich um das Schicksal der Tiere sorgen, das ist auch bei mir der Fall. Sie möchten ihren Lebensstil ändern, weil sie verstanden haben, dass sie den Weg ihrer Eltern nicht mehr gehen können. Zumal ihre Eltern selbst nicht mehr glücklich damit sind. Wir können einen neuen Weg der Freiheit beschreiten, es gibt Alternativen. Unsere Zeit ist sehr gefährlich, die Demokratie wird durch den Populismus gefährdet, es gibt in Deutschland und Frankreich viele Schwierigkeiten. Aber wir können unser Denken erweitern und darin den anderen Lebewesen, menschlichen und nicht-menschlichen, mehr Platz geben.

In Ihrem Buch „Ethik der Wertschätzungen“ schreiben Sie über die alten Ethiken. Sie führen den Begriff der Demut ein, den Sie von Bernhard von Clairvaux entlehnt haben.

Es gibt eine Kluft zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Bewusstsein und der Realität. Es gibt Menschen, die sagen, dass wir der Biosphäre Verletzungen zufügen, die irreversibel sein können, aber es gibt dennoch nicht viele Leute, die ihren ökologischen Fußabdruck verringern. Zudem folgt die Regierung unbeirrt dem Gesetz der Produktivität. Um diese Kluft zu verkleinern, ist es wichtig, dass wir eine andere Herangehensweise an die Moral und ihre Prinzipien in den Blick nehmen. Wir müssen über unsere Lebensweisen, die Gesamtheit unsere Vorstellungen in Bezug auf andere und auf die Natur neu bestimmen. Die Demut ist keine Tugend, sondern eine Übung der Tugenden, weil sie den Geist reinigt.

Wie meinen Sie das?

Die Demut ist die Tatsache, dass wir uns unserer Grenzen bewusst sind. Bei Bernhard von Clairvaux ist es auch so. Er legte uns die Demut ans Herz mit dem Bewusstsein, dass wir abhängig von anderen sind. Das Bewusstsein unserer Verwundbarkeit ist der Schlüssel für eine Veränderung der Welt. So können wir uns mit unserer Sterblichkeit und Verwundbarkeit versöhnen.

Wie sieht diese Versöhnung aus?

Wenn wir geboren werden, kommen wir in eine Welt, die älter ist als wir. Diese Welt kennt uns nicht, und wir kennen diese Welt nicht. Wenn wir anerkennen, dass wir als Sterbliche geborene und verwundbare Wesen sind, steigt das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt. Wenn wir verstehen, dass wir dadurch mit den anderen Lebewesen verbunden sind, dann verlieren wir die Lust, die Tiere in einen Käfig einzusperren oder diese Wesen zu beherrschen oder zu quälen. Es gibt Sehnsüchte, die ganz verschieden sind von denen, die uns nach Geld und Ruhm streben lassen.

Warum ist der Kapitalismus dann so erfolgreich, warum bleibt er?

Weil wir einige Begierden haben, die ihn stark machen. Das ist der Grund, weshalb wir Prinzipien brauchen, aber wir brauchen zugleich neue Sehnsüchte. Man muss den ökologischen Niedergang wie ein Emanzipationsprojekt verstehen. Es sollte nicht auf Angst beruhen, wie wir uns helfen können.

Wie bringt man den Menschen dazu zu handeln, er hat schließlich viele Eigeninteressen, an die er auch denken muss.

Es gibt ein Paradox, das Rousseau betont hat: Es gibt die Regeln eines Sozialvertrags zwischen den Menschen, aber wie kann das eigene Interesse des Menschen, wie kann das Individuum in das allgemeine Interesse integriert werden? Wie kann er einen Sinn für die Pflicht gewinnen? Denn die Demokratie beruht auf Zustimmung und nicht auf Zwang. Sie können die anderen nicht zwingen, ihre Meinungen zu ändern. Das war der Grund, warum Rousseau eine Tugendethik ausgearbeitet hat, damit sie Lust haben, ihren Lebensstil zu ändern. Die Tugendethik hilft uns dabei, eine Moralpredigt zu vermeiden. Greta Thunberg ist sehr interessant und sehr jung, aber viele Leute, die vom Klima sprechen, halten Moralpredigten und schrecken die anderen ab, weil sie betonen, wie schlimm ihr Verhalten ist. Man muss die Menschen ermuntern, dass sie Experimente durchführen können, um die Welt zu retten, so dass sie stolz auf sich sein können.

Hilft da Experimentierlust?

Es gibt viele Dinge, die gefährdet sind, der Friede, die Demokratie. Aber auch wenn es zu einer Katastrophe kommt, wird es notwendig sein, die Leute wieder aufzubauen. Es wird sehr wichtig sein, ihnen Instrumente oder Orientierungspunkte anzubieten, damit sie Experimente durchführen können, um die Welt zu retten, um zu retten, was gerettet werden kann. Es ist nicht nur wichtig, eine Diagnose zu stellen, wie die großen Philosophen es getan haben, sondern auch die Zukunft zu gestalten.

Sie haben gesagt, wir sollten Mut haben, Angst zu haben.

Es gibt viele Leute, die noch einfach in der Ablehnung verharren. Angst für mich besteht beispielsweise darin, dass ich mich wegen der Tierquälerei sorge, eine Sache, die für mich auch eine strategische Dimension hat. Sie ist der Spiegel, was unser enthumanisiertes Entwicklungsmodell aus uns gemacht hat.

Sollten wir keine Tiere mehr essen?

Ich bin selbst Veganerin, aber ich halte keine Moralpredigt. Die Leute sind frei. Ich glaube allerdings, sie sollten aus verschiedenen Gründen ihren Fleischverbrauch reduzieren, aus Gesundheitsgründen, für die Umwelt, für die Lebens- und Sterbens­bedingungen der Tiere. Es gibt also eine Konvergenz zwischen der Frage der Ökologie, der Gesundheit und der Gerechtigkeit. Wer Viehzucht betreibt, wird sich Sorgen machen, wenn die Menschen kein Fleisch mehr essen. Die Frage, was aus Jobs wird, ist ernst zu nehmen, und es ist wichtig, hier einen globalen Ansatz zu haben. Wie bewohnen wir die Erde? Und wie können wir die Ressourcen, wie ich die Nahrung nenne, mit anderen Lebewesen, mit anderen Menschen zu teilen? Es gibt keine Trennung zwischen der sozialen Gerechtigkeit und der Ökologie und einem neuen Humanismus.

Interview: Michael Hesse

 

ZUR PERSON

Corine Pelluchon, 1967 im Département Charente geboren, hat eine Philosophieprofessur an der Universität Paris-Est-Marne-la-Vallée. Ihre Schwerpunkte sind Moralphilosophie, Politische Philosophie sowie Angewandte Ethik. Im Februar erhielt sie in München den Günther- Anders-Preis für kritisches Denken.

Ihr Buch „Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt“ ist auf Deutsch 2019 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienen : Ethik der Wertschätzung. A. d. Franz. v. Heinz Jatho (Mitarbeit: Annette Jucknat). wbg Academic, 304 S., 50 Euro.

 

 

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