Focus-online Freitag, 08.05.2020, 13:50
Die Welt nach Corona muss eine andere sein, als die, die wir kennen, fordert Philosoph Markus Gabriel. Er sieht die Krise als Chance für einen Neuanfang, der moralischen Fortschritt der Menschheit an die oberste Spitze seiner Zielstruktur setzen muss – und ruft zu einer neuen Aufklärung auf.
Die Corona-Krise gehört in die Kategorie dessen, was man in der Philosophie als emphatisches Ereignis bezeichnet. Emphatische Ereignisse sind im Unterschied zu alltäglichen Prozessen nicht vorhersehbar. Sie verändern die Spielregeln der Abläufe, die wir als normal erleben und einstufen. Deswegen sind sie, ob man dies nun mag oder nicht, zutiefst transformativ.
Das bedeutet: Es wird keine Rückkehr zu derjenigen Normalität geben, die vor einigen Wochen wie ein Kartenhaus zusammengefallen ist, das vom unsichtbaren Wehen eines neuartigen Virus umgestoßen wurde.
Fortschritt erfolgt niemals automatisch
Die Moderne hat sich aus einer Serie emphatischer Ereignisse entwickelt. Das Erdbeben von Lissabon hat 1755 dazu geführt, dass ein radikales Umdenken in den Wertegrundlagen stattfand, worauf einige Jahrzehnte später die Französische Revolution folgte. Diese war der eigentliche Startschuss der Moderne.
Charakteristisch für die Moderne ist der Gedanke des Fortschritts. In jeder Krise liegen Chancen auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Je tiefer eine Krise in die Strukturen einer in sich brüchigen Wirklichkeit eingreift, desto größer ist die Spannbreite zwischen der Aussicht auf Fortschritt auf der einen und Rückschritt auf der anderen Seite. Fortschritt erfolgt niemals automatisch und er ist wie die emphatischen Ereignisse, die ihn auslösen, nicht vorhersehbar. Ob er stattfindet, liegt nämlich an uns, den geschichtlichen Akteuren.
Die Philosophie der Zukunft sagt die Zukunft nicht vorher. Denn sie weiß, dass es im Wesen der Zukunft liegt, offen zu sein. Wir sind als freie, geistige Lebewesen Gestalter dessen, was noch nicht ist, aber aufgrund unserer gegenwärtigen Entscheidungen einmal sein wird. Es ist deswegen unmöglich vorherzusagen, wie die Welt nach Corona aussehen wird, weil es in unserer Hand liegt, diese Zukunft hervorzubringen.
„Vision des Guten“
In Krisen, die das Potential haben, eine Zeitenwende herbeizuführen, ist es seit den Tagen der altgriechischen, attischen Demokratie die Aufgabe der Philosophie, eine neuartige „Vision des Guten“, wie dies der US-amerikanische Philosoph Brian Leiter nennt, hervorzubringen. Wir benötigen einen neuen Gesellschaftsentwurf. Solche Entwürfe haben dazu geführt, dass es beispielsweise heute überhaupt die Gewaltenteilung und einen demokratischen Rechtsstaat gibt, dessen Werteordnung auf dem Gedanken einer unbedingten Menschenwürde beruht.
Dahinter stecken die philosophischen Systeme Montesquieus und Kants, die es ihrerseits niemals gegeben hätte, wenn Platon und Aristoteles nicht den Gedanken zur Welt gebracht hätten, dass es ein gerechtes Gemeinwesen, eine Politik geben kann, die sich aus der Quelle höherer Moralität speist. Das heißt Gerechtigkeit.
Wir brauchen eine neue Aufklärung
Konkret bedeutet dies für unsere Zeit: Wir brauchen eine neue Aufklärung. Diese setzt den Gedanken des moralischen Fortschritts an die Spitze unserer gesamtgesellschaftlichen Zielstruktur. Moralischer Fortschritt besteht darin, dass wir unser Handeln an universalen Werten, wie der Menschenwürde, dem Begriff unserer Freiheit, der unbedingten Gleichheit aller Menschen und der Solidarität, ausrichten, um auf diese Weise herauszufinden, was wir tun bzw. unterlassen sollen.
Was wir in einer konkreten, stets komplexen Lage tun bzw. unterlassen sollen, bezeichne ich als moralische Tatsache. Diese kann man dank moralischer Einsicht entdecken.
Ein erfreuliches, aber einseitiges Beispiel für moralischen Fortschritt in dunklen Zeiten ist dasjenige, was ich den virologischen Imperativ nenne. Dieser fordert uns dazu auf, dass wir angesichts der Bedrohung durch das neuartige Coronavirus beinahe alles daransetzen, Menschen, die besonders gefährdet sind sowie unser Gesundheitssystem insgesamt zu schützen. Dafür sind wir in der ersten Phase der Corona-Krise Risiken eingegangen, deren Tragweite noch unvorstellbar ist.
Das Neue unserer derzeitigen Lage sehe ich darin, dass der Anpfiff der Revolution, die wir gerade erleben, moralisch aufgeladen ist. Darin ähnelt sie dem Startschuss der Moderne, der Französischen Revolution.
Marktlogik des gnadenlosen Wettbewerbs
Allerdings müssen wir nun behutsam vorgehen. Denn moralischer Fortschritt verläuft eben nicht automatisch, er kann in Rückschritt umschlagen. Der Rückschritt wird sich ergeben, wenn wir glauben, wir könnten zu demjenigen zurückkehren, was wir im Nachhinein als Normalität bezeichnen und zu vermissen glauben.
Doch erinnern wir uns: Vor wenigen Wochen waren wir in ein Hamsterrad der beschleunigten Produktion von letztlich sinnlosen Konsumgütern eingespannt. Die globalen Produktions- und Lieferketten dieser Konsumgüter sind so gestrickt, dass sie die brandgefährliche Klima-Krise seit Jahrzehnten befeuern und gleichzeitig sehr vielen Menschen durch Ausbeutung und Zerstörung ihrer Lebensräume Leid zufügen.
Der neo-liberale Gedanke, möglichst alle Institutionen und Prozesse – das Bildungs- und Gesundheitssystem, die Mobilität, die Digitalisierung – der Marktlogik des gnadenlosen Wettbewerbs auszusetzen, hat zu sozio-ökonomischer Ungleichheit und zu defekten Versorgungssystemen geführt, an denen nun viele Menschen sterben mussten und noch viele sterben werden, die eine unzureichende Gesundheitsversorgung haben.
Außerdem hat sich dieses Virus mit solcher Geschwindigkeit ausgebreitet, weil es sich auf den Liefer- und Handelswegen über die Körper der Geschäftsreisenden und Massentouristen in Billigfliegern und auf Kreuzfahrtschiffen wunderbar vermehren kann.
Burn-Out-Kapitalismus und Zerstörung des Planeten
Was uns im Rückblick als normal erscheint, war insgesamt ein auf moralisch verwerfliche Weise organisierter Burn-Out-Kapitalismus, von dem insbesondere Plutokraten, Oligarchen und Techmonopole profitieren, die aktiv an der Unterhöhlung der liberalen Demokratie arbeiten. Wir können und sollen nicht zu dieser Form der allmählichen Selbstausrottung der Menschheit durch Zerstörung unseres Planeten zurückkehren.
Wenn wir diesen Weg gehen und versuchen, ein Backup der Weltlage Anfang 2020 wieder auf das globale Betriebssystem zu installieren, sehen wir uns in wenigen Jahren viel größeren Krisen gegenüber, die wir nicht bewältigen können. Dazu gehören Dürren wie diejenige, die gerade bei uns in Deutschland droht.
Vergessen wir nicht: Das „schöne“ Wetter im Lockdown ist ein Indikator des Klimawandels und im Januar brannte Australien fast nieder. Und während die Corona-Krise akut stattfindet, verbreiten sich Verschwörungstheorien und Fake News mit ebenfalls unvorhersehbarer Geschwindigkeit, weil wir im Homeoffice, wie dies auf Corona-Deutsch heißt, wie gebannt auf unsere Bildschirme starren und auf befreiende Nachrichten hoffen.
Dabei übersehen wir, dass das Internet längst von Algorithmen kontrolliert wird, deren Aufgabe es ist, uns nach den Angeboten kalifornischer Plattformen süchtig zu machen. Das gelingt, indem wir geschickt manipuliert werden: Klick für Klick, Like für Like, Suche für Suche verfangen wir uns im Netz verzerrter Informationen.
Tech-Fortschritt muss an moralischen Fortschritt gekoppelt werden
Deswegen ist es so wohltuend für unsere Demokratie, dass die öffentliche Debatte sich zunehmend an einer Vielzahl von Expertenmeinungen orientiert und unsere gewählten Volksvertreter sachlich, umsichtig und am Wohl der Menschen in Deutschland, Europa und der Welt ausgerichtet argumentieren. Wenn wir jetzt in eine positive Zukunft blicken und sie aktiv gestalten wollen, brauchen wir sehr viel mehr von dieser Energie.
Die neue Aufklärung fordert daher an erster Stelle: Der naturwissenschaftlich-technologische Fortschritt muss fortan an moralischen Fortschritt gekoppelt werden. Der Neustart unserer weitgehend brachliegenden Wirtschaft muss moralischen Fortschritt der Menschheit an die oberste Spitze seiner Zielstruktur setzen.
Das bedeutet, dass wir nachhaltige Produktions- und Lieferketten, nachhaltige Formen des Tourismus und am Glück des Menschen orientierte Arbeitsformen entwickeln müssen. Es darf nicht mehr sein, dass wir unseren eigenen ökonomischen Wohlstand um den Preis erwirtschaften, dass am anderen Ende der Produktion – etwa in chinesischen oder indischen Fabriken, auf südamerikanischen oder afrikanischen Feldern – Menschen unter Bedingungen schuften, die wir niemals akzeptieren würden. Wenn unser ökonomischer Fortschritt, unser Wohlstand, Ergebnis moralischer Missstände ist, wird er früher oder später vollends kollabieren.
Coronavirus offenbarte moralische Systemschwäche einer Weltordnung
Ein für das bloße Auge unsichtbares Virus hat die moralischen Systemschwächen einer Weltordnung sichtbar gemacht, die in vielen ihrer Auswüchse verwerflich war. Nennen wir das moralisch Verwerfliche beim Namen: Das Böse. Dieses Böse ist nicht nur andernorts, wir können es nicht einfach outsourcen und an Donald Trump, Xi Jinping oder noch schlimmere Diktatoren delegieren, die sich für uns die Hände schmutzig machen. Wir sind solange Bestandteil des Problems, wie wir nicht gezielt an seiner Überwindung arbeiten.
Wenn unser Ziel lediglich die Öffnung von Shoppingcentern und Autohäusern ist, haben wir uns nicht wirklich geöffnet, sondern einer besseren Zukunft verschlossen. Denn vor uns stehen Herausforderungen globalen Ausmaßes, wozu neben dem Klimawandel insbesondere die sogenannte Digitalisierung gehören.
Umdenken der Digitalisierung
Die neue Aufklärung ruft zu einer digitalen Revolution, das heißt zu einem Umdenken der Digitalisierung auf. Dazu gehört die Einsicht, dass die sozialen Netzwerke und neuen Medien wesentlich, also nicht nur zufällig, darauf hinauslaufen, die demokratische Öffentlichkeit zu unterminieren. In den Echokammern von Facebook und dem Cyberkrieg auf Twitter herrscht der demokratische Rechtsstaat nur bedingt. Der größte Teil unserer digitalen Infrastruktur in Europa wird von US-amerikanischen Techmonopolen zur Verfügung gestellt, deren Algorithmen sich nicht um Wahrheit und das moralisch Gute scheren.
Wir produzieren Daten, deren Mehrwert in Kalifornien abgeschöpft wird, ohne dass dieser Mehrwert angemessen besteuert wird. Dabei sind wir Europäer zu einer Art digitalem Proletariat geworden: Wir arbeiten selbst in unserer Freizeit an unseren Bildschirmen faktisch für US-amerikanische Unternehmen, ohne dafür auch nur den Mindestlohn zu erhalten. Wir sollten daher sowohl eine faire Besteuerung, die Beachtung unserer demokratischen Werte und einen Mindestlohn für unsere Daten einfordern. Noch besser wäre es, wenn wir eine europäische digitale Infrastruktur schaffen könnten, die mit den universalen Werten der Aufklärung vereinbar ist, die unserem Grundgesetz zugrundeliegen.
Die Welt nach Corona kann, soll und wird nicht mehr so sein wie diejenige, die noch vor wenigen Wochen in Betrieb war. Sobald die Infektionsketten halbwegs stabil unterbrochen sind und wir noch weiter öffnen werden, müssen wir uns alle gemeinsam und jeder für sich die Frage stellen, wer wir sind und wer wir sein wollen.
Über den Autor
Markus Gabriel ist Leiter des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn und des dortigen Internationalen Zentrums für Philosophie. Im Mai erscheint sein neues Grundlagenwerk „Fiktionen“, in dem er eine realistische Philosophie der Fiktionalität, die zugleich die Fundamente einer Theorie der Objektivität der Geisteswissenschaften legt.